© Tatiana Lecomte

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  1. Scriptures Without Words Galerie Stadtpark, Krems, 2009.

    Scriptures Without Words Galerie Stadtpark, Krems, 2009.

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      Scriptures Without Words Galerie Stadtpark, Krems, 2009.

    David Komary

    Scriptures Without Words

     

    Nur ist der Gegenstand nicht einfach die Welt, wie sie ist, die Welt, wie sie aussieht, und nicht einmal die Art und Weise, wie wir sehen; er ist vielmehr eine standardisierte, charakterisierte, klar definierte Vorstellung vom Sehen.

    Joel Snyder

     

    Tatiana Lecomte untersucht in ihren Bildserien die Grenzen fotografisch konstruierter Sichtbarkeit. Sie fragt nach der Evidenz des fotografischen Bildes und nach seiner Bedeutung für die Konstruktion von Vergangenheit und Geschichte. In den Serien Der Teich und Oradour sucht die Künstlerin Orte des Verbrechens des Naziregimes auf und untersucht sie fotografisch auf Spuren und lesbare Verweise des Verbrechens. Vordergründig setzt Lecomte das eigene Sehen in Bezug zum Ort und dessen Medialisierung, durchaus im Sinne einer Aneignungsstrategie. Rezeptionsästhetisch betrachtet wird diese dokumentarische Strategie jedoch gebrochen: mittels der Deformierung der Referenz durch Unschärfe (Oradour), durch pikturale Auslassungen (Der Teich) sowie durch die Auflösung der örtlichen Referenz (Einfaches Motiv). Lecomte inszeniert Bilder des Scheiterns der Repräsentation. In sämtlichen Serien finden sich kaum bis gar keine sichtbaren Verweise auf die Vergangenheit. Der Betrachter sieht sich vielmehr mit menschenleeren Gegenden konfrontiert, die auf den ersten Blick friedlich, oftmals gar idyllisch scheinen. Einerseits rekurriert Lecomte auf das Vermögen des fotografischen Bildes zur Emanation des Vergangenen [1], andererseits unterwandert sie die dokumentarisch-fotografische Strategie. Durch pikturale Unbestimmtheitsstellen, Unschärfen und Leerstellen evoziert die Künstlerin eine imaginativ-rekonstruierende Lektüre durch den Betrachter. Die Bilder Lecomtes fungieren nicht als Dokumente, vielmehr verweisen sie auf die Konstruktion von Geschichte sowie auf die vergegenwärtigende Lektüre des einzelnen Betrachters.

    Lecomtes Bildern ist stets der Zweifel an der Objektivität des Fotografischen inhärent, an der indexikalischen Spur als Legitimation des Barthes’schen „Es-ist-so-gewesen“ [2]. Bilder geben nicht einfach wieder, sie verdanken sich stets auch der Konstruktion und sind selbst wiederum an der Konstruktion von Wirklichkeit wesentlich beteiligt. Die Sichtbarkeit der Dinge ist keine fraglos gegebene Qualität, sie wird vielmehr hergestellt. Fotografie ist als ein Dispositiv beschreibbar, eine Beobachtungskonfiguration, die Sichtbarkeit reguliert. Eine Analyse des fotografischen Dispositivs begreift Bilder nicht als geschlossene semantische Einheiten, fragt nicht nach deren Repräsentation oder Wirklichkeitstreue, sondern nach dem fotografischen Dispositiv als Bedeutung produzierende Schnittstelle gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse; eine solche Analyse begreift „Blickverhältnisse als Medienverhältnisse als Repräsentationsverhältnisse als Machtverhältnisse“ [3].

    Das fotografische Bild markiert weniger ein Moment der Repräsentation, der Widerspiegelung der Wirklichkeit, denn ein ikonisches Zeichen im wirklichkeitskonstituierenden semiotischen Prozess. Das Betrachten eines fotografischen Bildes gleicht mehr einer Lektüre; das Bild wird nicht erkannt, es wird gelesen. Die Bedeutung des Bildes liegt somit weniger im Abgebildeten als in der Verkettung, im interpikturalen und intertextuellen Bezug zu anderen Bildern und Texten. Es ist diese Interdependenz von ikonischen und textuellen Strukturen, die Lecomte in ihren Arbeiten untersucht.

    In der Serie Der Teich sieht sich der Betrachter mit einem Waldbild konfrontiert, das jedoch ikonoklastisch von einem schwarzen Balken gestört wird. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet die historisch-dokumentarische Spurensuche der Künstlerin in Auschwitz-Birkenau. Lecomte machte Aufnahmen des Geländes, befragte den Ort ob sichtbarer Indizes und Spuren der Vergangenheit, des Verbrechens. Noch vor der Vergrößerung der Fotografien schnitt die Künstlerin aus dem Negativ einen wesentlichen Bereich um den Bildhorizont heraus und entfernte mit den Betonpfeilern der ehemaligen Konzentrationslagerumzäunung und den Aussichtstürmen jene Signifikanten, die den Ort als Auschwitz-Birkenau lesbar machen würden. Der schwarze Balken – Verdeckung, Leerstelle oder Auslöschung? ­– bildet ein Scharnier unterschiedlicher Lesarten und möglicher Bedeutungszuschreibungen. Die pikturale Unbestimmtheit bedingt eine Ergänzung durch den Betrachter, einen Semioseprozess jenseits der Sichtbarkeit fotografischer Faktizität. Lecomte sucht mittels der Strategie fotografischer Aneignung nach einer Vergegenwärtigung von Ereignissen und Geschehnissen, die sich der Sichtbarkeit sowie der Vorstellung weitestgehend entziehen. Der schwarze Balken jedoch „bezeichnet“ das sich der Sichtbarkeit Entziehende, das dem Ort inhärent ist. Diese Auslassung verweist nicht allein auf das Unvermögen einer Vergegenwärtigung durch bildliche Strategien, sondern auch auf die Politik der Bilder, auf dasjenige, das nicht im Bild erscheint, das aber seine Organisation bestimmt.

    In der Fotoserie Oradour findet sich der Betrachter mit einer ländlichen Gegend als Motiv verschwommener Bilder einer auf den ersten Blick gefällig anmutenden Bildrhetorik ausgesetzt. Doch gründet die fotografische Idylle bloß vermeintlich auf Weichzeichnung; sie ist vielmehr Resultat einer mehrfachen Medialisierung: Lecomte fotografiert ein anfangs scharfes Bild des Ortes mit einer Polaroidkamera und nimmt dieses Bild vom Bild zur Vorlage für ein weiteres Bild usf. Sie wiederholt diesen Vorgang solange, bis ein Grad von Unschärfe erreicht ist, der ein klares Erkennen des Ortes und seiner Spezifika verunmöglicht. Bei dem kaum noch zu erkennenden Ort handelt es sich um Oradour-sur-Glane, ein französisches Dorf, das 1944 von der SS niedergebrannt und dessen EinwohnerInnen ermordet wurden. Das Dorf wurde nach dem Geschehen als Ort der Erinnerung in seinem zerstörten Zustand belassen.

    Lecomte sucht im Sinne einer Aneignungs- und Vergegenwärtigungsstrategie das eigene Bild mit den medialen Codierungen des Ortes in Beziehung zu setzen. Die Unterschiede auf visueller Ebene sind jedoch insignifikant. Da stets nur die gleichen Aufnahmen von der Ruinenstadt gemacht werden können, unterscheiden sich Lecomtes Bilder in keiner nennenswerten Weise von früheren Bildern anderer Fotografen. Lecomte fügt dieser visuellen Ununterscheidbarkeit entsprechend fremde Bilder in die Serie ein, bettet SW-Bilder des Ortes, die unmittelbar nach der Tat gemacht wurden, in die Serie von ihr gemachter Farbfotografien ein. Wenn sie dabei auf Archivmaterial, auf Reproduktionen aus Büchern über Oradour zurückgreift, stellt sie zwei zeitliche Schichten nebeneinander. In diesem Spannungsfeld von zeitlicher De- und Rekontextualisierung lotet Lecomte das Verhältnis eigener und fremder Bilder aus. Längst geht jedem Gegenstand ein Bild voran, man sieht Bilder, ehe man die „Wirklichkeit“ sieht. Der eigene, subjektive Blick erscheint somit entwertet, gar negiert, die Spurensuche am Ort des Verbrechens geradezu absurd. Doch mit dieser Gegenüberstellung und Verschränkung fremder und eigener, früherer und aktueller Fotografien verweist Lecomte weniger auf die Unmöglichkeit des Sehens, auf das Scheitern des Blicks als epistemologisches Instrument, als vielmehr auf die Problematik visueller Repräsentation von Geschichte im Kontext medialer Mehrfachcodierung. Nicht die Unmöglichkeit oder das Scheitern des Blicks, sondern die Frage nach den sich stets neu und anders konstituierenden Zusammenhängen und Differenzen von Vorbild, Abbild und Wahrnehmungsbild sind Thema der Arbeit.

    Die Frage nach der fotografischen Evidenz des postmodernen, oder mit Marc Ries, des „postkonditionalen“ Bildes, das seine Eindeutigkeit eingebüßt zu haben scheint, verdichtet sich in der Bildserie Einfaches Motiv zu einer Analyse fotografischer Codierungen und intermedialer Wechselwirkungen. In dieser Bildserie untersucht Lecomte keinen Ort des Verbrechens, sondern die fotografische Codierung von Orten des Verbrechens im Allgemeinen: dokumentarische Aufnahmen von Laub, Unterholz, mit typisch grobem Zeitungsraster, der das Bild als Tatortfotografie lesbar macht, auch wenn Text oder Bildlegende fehlen. Lecomte fokussiert nicht den Ort, sondern die hegemoniale Bildregie, mit der Orte des Verbrechens dokumentarisch-inszenatorisch dargestellt werden. Wie bereits in der Bildserie Oradour verwendet Lecomte sowohl eigene Aufnahmen als auch Aufnahmen anderer Fotografen, deren Referenz unbenannt bleibt. Somit verliert der Ort selbst in dieser Serie gänzlich an Bedeutung, er wird zur Variable. In Einfaches Motiv sind es jedoch nicht bloß fotografische Codes mit der Suggestion eines indexikalischen Bezugs zur Wirklichkeit, sondern auch Zeitschriftenbilder, die den Dechiffrierungsprozess fotografischer Bildlichkeit mitbestimmen. Das Foto erscheint als Teil eines Medienverbunds, eines Bildsystems, das durch die Lektüren der Betrachter mitkonstituiert wird. Weniger die Referenzialität des fotografischen Bildes ist von Bedeutung als die Frage, welche Realitätseffekte die Fotografie im Verbund mit anderen Medien zu evozieren vermag.

    In diesem Sinn zielt die fotografische Praxis Lecomtes auf einen Begriff von Fotografie, der nicht auf fotografische Faktizität rekurriert, sondern Fotografie „als ein Mediensystem versteht, durch das bestimmte Bildkonstellationen erzeugt werden können, um über bestimmte Phänomene des Realen eine (visuelle) Aussage zu treffen“ [4]. Denn nach den impliziten Grammatiken des fotografischen Blicks  in einem intermedialen Zusammenhang zu fragen, und nur auf diese Weise lässt sich die Frage noch stellen, heißt letztlich stets, nach den Politiken der Sichtbarkeit sowie ihren Auswirkungen auf die „Weisen der Welterzeugung“ [5] zu fragen.

     

    1  Roland Barthes, Die Helle Kammer, Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 90f.

    2  Ebd., 86f.

    3  Reinhard Braun, Radikale Bilder – Spekulative Theoreme, in: Reinhard Braun, Werner Fenz (Hg.), Radikale Bilder, 2. Österreichische Triennale zur Fotografie, Graz: Edition Camera 1996, http://braun.mur.at/texte/radikal_1996.shtml.

    4  Ebd.

    5  Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984.

     

  2.  ________________________________________________

     

    Eröffnungsrede

    Thomas Eder

    Einige Gemeinplätze zur Dokumentarfotografie – und wie sie in Tatiana Lecomtes Fotografien unterlaufen werden.

     

    I) Spur und Zeugnis

    Die Frage nach dem dokumentarischen Status von Fotografien ist schwierig zu beantworten (sie ist in Bildtheorien poststrukturalistischer / dekonstruktivistischer Tönung vielfach und mit beachtlichem theoretischem Instrumentarium umkreist worden, ich möchte hingegen eine zeitgenössische Fassung aus der analytischen Philosophie kurz vorstellen und auf Tatiana Lecomtes Fotografien zu beziehen versuchen). In der philosophischen Ästhetik (Currie 2004, 63‑83) hat sich für diese Fragestellung die Unterscheidung zwischen zwei Repräsentationsweisen in künstlerischen Werken durchgesetzt: als Spur (“trace”) oder als Zeugnis (“testimony”), vgl. dazu und zum Folgenden: Currie 2004, 65-81. Eine Fotografie (wie auch ein Fußabdruck oder eine Totenmaske) sei eine Spur des auf ihr abgebildeten Gegenstands, ein gemaltes Bild oder eine Zeichnung sei ein Zeugnis davon, Spur und Zeugnis unterscheiden sich unter anderem durch die Kategorie der Intentionalität. Spuren sind unabhängig von Intentionen (was auf einer Fotografie drauf ist, ist Ergebnis eines fotochemischen Prozesses und nicht das Ergebnis der Intentionen des Fotografen), was aber ein gemaltes Bild zeigt, ist Ergebnis der Intentionen seines Urhebers. Ein Fotoapparat nimmt das auf, was vor ihm ist, und nicht das, was die Fotografin denkt, daß vor ihm ist. Im Gegensatz dazu malt der Maler das, was er denkt, daß vor ihm ist. Der halluzinierende Maler malt einen rosaroten Elefanten, die halluzinierende Fotografin ist womöglich enttäuscht, wenn ihre im halluzinatorischen Zustand angefertigte Fotografie bei der Ausarbeitung ein leeres Zimmer zeigt. Das heißt natürlich nicht, daß nicht auch Fotografien und filmische Bilder beabsichtigt sein können (zumeist sind sie es), jedoch sind auch zufällige Aufnahmen denkbar, etwa wenn zufällig der Auslöser auf der Kamera, die mir vor dem Bauch hängt, betätigt wird und meinen Fuß zeigt. Ein Mißgeschick in einem Farbengeschäft hingegen macht kein Gemälde der Kathedrale von Chartres, der Borkenkäfer, der sich durch die Rinde eines Baumstamms just entlang der Umrißlinien von Churchills Karikatur frißt, karikiert dadurch nicht den ehemaligen britischen Premierminister. Es braucht ein Mindestmaß an Intentionalität für nicht-fotografische Abbilder.

     

    Ia) Repräsentationale Reichweite

    Hinzu kommt ganz entscheidend die Unterscheidbarkeit von Spur und Zeugnis hinsichtlich ihrer “primären repräsentationalen Reichweite” (Currie 2004, 67): wir können Dinge und Sachverhalte zeichnen und beschreiben, die niemals stattgefunden haben (als Zeugnisse), aber nur real stattgehabte Ereignisse können Spuren in diesem Sinn hinterlassen, eine Spur kann nur von etwas in der Vergangenheit und nicht von etwas in der Zukunft entstehen.

    Fotografien können, zu einem Gutteil deshalb, weil sie Spuren sind, eine Quelle von Information sein, wie es gemalte Bilder nicht sein können. Deshalb können Artefakte, die mit Spuren operieren, auch Dinge der Welt enthüllen, die unabhängig von den Intentionen ihrer Urheber entstanden sind (ein Blow-Up einer Fotografie kann Details ans Licht bringen, die dem Fotografen verborgen waren, ein Blow-Up eines gemalten Bildes könnte das nicht, weil es ein Zeugnis ist – Antonionis Blow Up handelt mit gutem Grund von einem Fotografen, nicht von einem Maler).

    Fotografie und Filmbilder eröffnen somit neue oder zumindest eigenständige repräsentationale Möglichkeiten: das Festhalten von nicht-intentionalen Inhalten, unabhängig von den Intentionen dessen, der sie aufnimmt (und der ansonsten ein Urheber in einem stärkeren Sinn wäre).

     

    Ib) Spur-Inhalt und narrativer Inhalt

    Wie hängt aber die Unterscheidung von Spur und Zeugnis mit der Frage nach dem dokumentarischen Status von Kunstwerken insgesamt und von Fotografien im besonderen zusammen?

    Spuren sind ein notwendiges, aber nicht ein hinreichendes Kriterium dafür, dass ein Kunstwerk dokumentarischen Status aufweisen kann. Hinzu kommt die Erfordernis, dass der Spur-Inhalt (“trace content”) mit dem narrativen Inhalt (“narrative content”) zusammenhängen muss, um von einer dokumentarischen Kunstform sprechen zu können. (Als Beispiel aus dem Bereich des Films: Die Filmbilder von Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart in Casablanca sind [trivialerweise und kontextunabhängig] Spuren von Bergmann und Bogart, jedoch hängen diese im Kontext des Films nicht mit der erzählten Geschichte von Ilsa und Rick zusammen – der narrative Inhalt könnte auch ein ganz anderer sein, vgl. Currie 2004, 76 f.).

    Spur-Inhalt ist dem fotografischen Bild inhärent, während narrativer Inhalt vom Kontext abhängt, in dem das Bild steht. Spur-Inhalt ist nicht-konzeptuell, während narrativer Inhalt konzeptuell ist. Der Spur-Inhalt einer Fotografie ist vom Kontext unabhängig: eine Fotografie von Tante Berta repräsentiert in dieser Hinsicht Tante Berta, unabhängig davon, was man über diese Fotografie sagt oder mit welchen anderen Fotografien man sie kombiniert.

    Mit dem narrativen Inhalt verhält es sich anders: hier spielt gerade der Kontext, in den das fotografische Bild gestellt wird, eine große Rolle.

    Diese Unterscheidung führt zu jener zwischen Wahrnehmungen und Überzeugungen: Wahrnehmungen brauchen keinen konzeptuellen Inhalt, Überzeugungen brauchen konzeptuellen Inhalt.

    Daraus läßt sich im Stile der analytischen Philosophie technisch formulieren: Für jedes Bild mit repräsentationalem Inhalt S gilt, daß S konzeptuellen Inhalt hat, genau dann wenn die Gemachtheit von S durch eine Person X beinhaltet, daß X die Konzepte besitzt, die in einer Spezifikation dessen auftauchen, was das ist, was X repräsentiert.

    Anhand dieses Kriteriums wird klar, daß Fotografien keinen konzeptuellen Inhalt haben, weil für jedes Foto gilt, daß es den Inhalt haben könnte, ohne daß die Person, die das Foto gemacht hat, fähig sein müßte, diesen Inhalt in irgendeiner Weise zu konzeptualisieren. Denn der Inhalt der Fotografie ist durch pure Verursachung hervorgerufen. Wenn wir aber annehmen, dass das fotografische Bild einen zusätzlichen narrativen Inhalt hat, so kann das nur aus einer Verbindung zwischen Bild und Narrativ herrühren – und diese muß intendiert sein. Der Inhalt dieses Narrativs ist dann nur im Hinblick darauf zu beschreiben, welche Konzepte von dem erzählenden Handlungsträger (oder von der diese Erzählung (re-)konstruierenden Betrachterin) besessen werden oder zumindest ihnen zugänglich sind.

     

    II) Tatiana Lecomtes Fotografien

     

    Tatiana Lecomte schafft in ihren Fotografien

    IIa) Hybride zwischen Spur und Zeugnis

    Es gibt im Licht der zuvor präsentierten Unterscheidung Hybride zwischen Spur und Zeugnis: handbemalte oder anders manipulierte Fotografien sind ein Beispiel dafür. Tatiana Lecomte schafft in ihren Arbeiten – vor allem in der hier gezeigten Serie „Der Teich“ ein Hybrid aus Spur und Zeugnis: diese Fotografien zeigen Spuren der Umgebung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau; allerdings hat Lecomte (noch vor der Ausarbeitung) alle Stellen auf dem Negativ der Fotografie herausgeschnitten, die von den Nationalsozialisten errichtete Bauten und Bauteile (Betonpfeiler der ehemaligen Konzentrationslagerumzäunung und Aussichtstürme) zeigen. Dadurch entsteht bei der Ausbelichtung des Negativs auf dem Positiv an der Stelle, die diese Bauteile ansonsten zeigen würde, eine Art schwarzer Balken. Damit führt Lecomte ein umgekehrtes Blow-Up-Verfahren – gleichsam ein Fade-Out – aus: nicht das Freilegen nicht-intentionaler Spuren auf der Fotografie ist das Anliegen dieser Arbeiten, sondern das Abblenden des üblicherweise dokumentarischen Potentials von Fotografie durch Wegschneiden wird zu ihrem „Thema“. Der als Manipulation der Fotografie entstehende „schwarze Balken“ fungiert in der zuvor zitierten Terminologie wohl als Zeugnis – eigenartiges Zeugnis könnte man einwenden, aber: das Zensieren mit schwarzem Balken ist ein zumindest in unserer Kultur geläufiges Stereotyp (die mit schwarzem Balken zensierten Stellen in Texten, z.B. von autoritären Systemen oder die mit schwarzen Balken über besonders signifikanten Stellen [meist die Augenpartie] unkenntlich gemachten Täter auf Zeitungsfotos [aufgrund des Rechts auf den Schutz des eigenen Bildes, wofür der schwarze Balken über der Augenpartie ja zumeist nicht ausreichend ist]). Mit diesen konzeptuellen Gehalten operiert diese Serie von Fotografien: konzeptuelle Gehalte, mit deren Hilfe ihr nicht-intentionaler Spur-Inhalt und dokumentarischer Charakter zitiert und unterlaufen wird, um davon ausgehend auf ihren narrativen Gehalt hinzuführen (diese Verbindung ist durch die Intention der Fotografin gewährleistet, aber nicht nur: mir scheint, diese Arbeiten setzen durch ihre formale Verfassung auch in den Betrachterinnen dieselben konzeptuellen Gehalte in Gang (auch wenn es dazu, und das eine weitere spannende Frage, der Einbettung der Fotografien in den Kontext des Narrativs: NS-Lager und dessen fotografische Rekonstruktion bedarf).

     

    Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Kategorie, die zwischen Spur und Zeugnis steht: die Simulation – wenn z.B. ein Detektiv intentional die Handlungen selbst nach-vollführt, die er dem Verbrecher unterstellt, dieselbe Strecke mit dem Auto abfährt, denselben Schußwinkel beim Abfeuern der Kugel einnimmt und dann das von ihm intentional Erzeugte (also ein Zeugnis) wie eine Spur behandelt (abfotografiert zum Beispiel).

    In Tatiana Lecomtes Serie „Oradour“ stehen schwarz-weiße neben farbigen Aufnahmen, die verschwommen einzelne Orte, Bauten und Bauteile des französischen Städtchens „Oradour“ zeigen (das ja 1944 von den Nazis in einem sogenannten „Vergeltungsschlag“ nach der Landung der alliierten Truppen gänzlich zerstört wurde, fast alle Einwohner wurden getötet – und das seitdem als Museumsdorf in dem damaligen Zustand zu konservieren versucht wurde). Diese Konservierung durch die Gedenkdienste könnte als das konstruierende Bewahren einer Spur verstanden werden (es bedarf ja auch eines nicht unerheblichen Aufwands, etwas Reales über die Zeitläufte hinweg in einem bestimmten Grad der Zerstörung zu bewahren). In Analogie zu dem Detektivbeispiel: es werden zwar keine Zeugnisse intentional erzeugt und wie Spuren behandelt, aber ehemalige Spuren werden durch ihre Konservierung zu Zeugnissen, die Lecomte wie Spuren behandelt – mit der zusätzlichen Komplexion, durch das mehrfache Abfotografieren des Abfotografierten eine ästhetische Oberfläche zu erreichen, die das Resultat in visueller Hinsicht mit den der Zerstörung zeitnah aufgenommenen Fotografien, die ihrerseits auch immer wieder abfotografiert werden, annähert (mit der relevanten Differenz, daß diese in Schwarz-weiß wiedergegebene sind, jene aber in Farbe (ich komme darauf noch kurz zurück.)

     

    b) Hybride zwischen Spur-Inhalt und narrativem Inhalt

    In der Serie „Einfache Orte“ sind keine Orte tatsächlich stattgefundener Verbrechen, sondern Aufnahmen von Laub, Unterholz, Geländekanten, Straßenbau-Baustellen, Straßen- und Brückenbauwerke (etc.) zusammengestellt, manche sind gefunden in Zeitungen, manche selbst fotografiert und mit typisch grobem Zeitungsraster (in analogem Verfahren) unterlegt. Dieses formale Vorgehen macht die Fotografien als Tatort-Fotografien lesbar, ex negativo zeigt Lecomte damit:

    Fotografische Bilder können nicht auf Sachverhalte Bezug nehmen, solange wir bei ihrer Betrachtung und Interpretation ausschließlich die von ihnen eingesetzten bildlichen Darstellungsmittel berücksichtigen.

    Sie können allgemein und speziell im Falle der Fotografien Lecomtes auf Sachverhalte nur dann bezogen werden, wenn eine Bestimmung ihres Bezugs auf eine bestimmte Raum-Zeit-Region erfolgt ist. Da aber nicht einmal eine Fotografie allein durch ihre bildlichen Darstellungsmittel ihren Bezugsgegenstand eindeutig bestimmen kann, muß diese Bestimmung durch die Einordnung in einen Kontext erfolgen.

    In „Einfaches Motiv“ simuliert Lecomte diesen Kontext durch die Art der Darstellungsmittel – aber wiederum: dazu bedarf es bestimmter konzeptueller Gehalte, die sich aus dem der Serie unterliegenden Narrativ ableiten – und diese müssen von der Fotografin oder von der Betrachterin intentional besessen werden.

     

    IIc) Hybride zwischen Evidenz und Konstruktion

    Fotografien erzeugen Evidenz. Die vielleicht eingängigste Definition des Begriffs „evident“ lautet: „Evident ist, was einleuchtet, weil es ausstrahlt.“ Dieser Vorgang scheint auf den ersten Blick sehr einfach zu sein. Es bedarf keines Vermittlers oder Interpreten, denn diese würden die unmittelbare Wirkung verderben.

    Wenn man sich hingegen fragt: „Warum und auf welche Weise leuchtet etwas ein? Und warum strahlt es dadurch auch aus?“, dann muß man sich mit Problemen der medialen Vermittlung auseinandersetzen. Daß eine Fotografie etwas ausstrahlt, ist wohl weitgehend unumstritten. Aber nach welchen Regeln kommt ein Foto zustande? Warum wirken Schwarz-Weiß-Fotos heute für uns oft authentischer als farbige, obwohl es in der Wirklichkeit keine rein schwarz/weißen Sachverhalte gibt?

    Auch dafür ist die Serie „Oradour“ (und wohl die fotografische Arbeit Lecomtes insgesamt) ein herausragendes Beispiel: ein Beispiel permanenter Verunsicherung, die dem Gegenstand des von Lecomte fokussierten Erkenntnisbereichs (die Greuel des nationalsozialistischen Terrors und der Shoah) ebenso gilt wie allen Versuchen, diese mit den Mitteln der Kunst zu repräsentieren.

     

    Zitierte Literatur:

    Currie, G. (2004). Arts and Minds. Oxford: Clarendon Press.