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Moritz Scheper
Ins Birkenwäldchen
Mit dem Nationalsozialismus könnte das Thema von Tatiana Lecomtes Arbeit Anschluss größer kaum sein. Seine Monstrosität, die von der Singularität der Shoah herrührt, macht ihn für jedwede Auseinandersetzung innerhalb der Fotografie problematisch, wie allein die Debatte um Didi-Hubermans Bilder trotz allem gezeigt hat. Schließlich hatte der Nationalsozialismus ein tiefes Verständnis nicht nur von der Ästhetisierung und Manipulation des massenmedialen Bildes – man denke allein an Leni Riefenstahl, den Redner Hitler oder die Bilder des Reichstagsbrands –, sondern auch von dem bezeugenden Charakter der Fotografie, der insbesondere in Bezug auf die Verbrechen an der Menschheit mit großer Sorgfalt berücksichtigt wurde, um auch innerhalb zukünftiger Historienbildung die Deutungshoheit zu behaupten.
In dieser komplexen Gemengelage hakt Lecomte mit Anschluss ein, indem sie den von Fotografie affizierten Nationalsozialismus auf seinem Terrain zu stellen versucht. Sie beschränkt sich nicht darauf, ihn von seinem Ende her zu erzählen, also von der Aufdeckung der systematischen Ermordung von Millionen Menschen, sondern sie bringt diese Bilder mit den Aufnahmen aus dem Alltag derjeniger zusammen, die sich in diesem System gemütlich eingerichtet hatten. Es sind Fotografien, die noch vor dem „Anschluss“ Österreichs entstanden sind, gleichwohl aber Kontinuitäten statt Zäsuren betonen, wie sie etwa in LTI-Vokabeln wie „Machtergreifung“ zu stecken scheinen. Schließlich senken sich totalitäre Regime in alle Teilfelder des gesellschaftlichen Lebens ab. Andersherum betrachtet tauchen solche Regime auch nicht aus dem Nichts auf, sondern finden Anknüpfungspunkte in verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Gebräuchen. Amateurfotografien im weitesten Sinne sind hervorragend geeignet, beides abzubilden und trotzdem nicht den ästhetischen Heroismus der offiziellen NS-Fotografie zu perpetuieren.
Um der besagten Monstrosität ihres Gegenstandes gerecht und dennoch nicht von seinem Umfang erdrückt zu werden, konzentriert sich Lecomte für diese Arbeit auf einen Ort, der den Nationalsozialismus in nuce wiedergibt. Linz, die Stadt, in der Hitler seine Jugend verbracht hatte, geriet mit der Nibelungenbrücke, den Brückenkopfgebäuden und einigen anderen Bau- und Infrastrukturmaßnahmen auf den Weg zur „Führerstadt Linz“. Es ist die Stadt, in der der sogenannte „Anschluss ans Reich“ formell besiegelt wurde. Abseits der repräsentativen Reproduktion dieses Regimes war das KZ Mauthausen, dessen Außenlager sich auch auf das Linzer Stadtgebiet erstreckten, nicht auf Sichtbarkeit und mediale Aufzeichnung ausgerichtet. Das Besondere an dem Ort Linz ist damit seine historische Kontamination und sicherlich die Nähe dieser Zentren von ausgestellter und unterschlagener Sichtbarkeit. Die Nähe dieser, wenn man so möchte, zwei aufeinander bezogenen Seiten des Nationalsozialismus, wurde schon 1945 von Samuel Fuller mittels technischer Bilder festgehalten – sein berühmter Schwenk vom KZ Falkenau auf das danebenliegende Dorf belegte die alltägliche Sichtbarkeit der Gräueltaten und wirkt als zentraler medialer Hebel für die Kollektivierung der Schuld.
Nun vertritt Tatiana Lecomte nicht den Anspruch, eine Dokumentation dieser Verbrechen herzustellen. Ihre Auseinandersetzung findet fast ausschließlich mit der Bilderproduktion statt und beschäftigt sich eher mit der Einordnung und Anordnung des Materials. Ihr Ansatz, Fotografien auf Tafeln aus Karton anzuordnen, ruft selbstredend Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas auf. Anders als Warburg nutzt Lecomte kein schwarzes Tuch, sondern Karton in grauer Farbe, auf den sie das Bildmaterial mit sichtbaren Klebestreifen platziert. Die Künstlerin präsentiert nicht die Tafeln selbst, sondern Fotografien derselben, die sie 1:1 abzieht. Dadurch flacht sie die Anordnung auf dem Karton ab, schafft eine formale Vereinheitlichung, auch indem sie wie in der Ausstellung nur Schwarzweiß-Fotografien der Tafeln zeigt. Aus dieser sorgfältigen Komposition fallen die Klebestreifen heraus. Das Tape fungiert für sie als Stilmittel, das die Autorität der ordnenden Hand (im Unterschied zu Warburg) infrage stellt und ostentativ andere mögliche Sortierungsweisen anbietet. Nicht zuletzt deswegen, da auf dem Karton immer wieder Abrissspuren zu erkennen sind, die auf vorherige Anordnungen hindeuten. Hinzu kommt, dass die Bildlegenden in der Ausstellung vollständig separiert von den Bildern gezeigt wurden. Damit treibt Lecomte den Nivellierungsprozess, der durch das Abfotografieren der Tafeln begonnen wurde, konsequent weiter. Mit dem Effekt, dass einzelne Bilder, die von der Singularität der NS-Verbrechen zeugen, aus der Vielzahl an Fotos auf den einzelnen Tafeln eben nicht herausragen, sondern eine Bezugnahme zu den nachbarschaftlich angeordneten Bildern möglich wird. Wie Warburg das Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur veranschaulichen wollte, zeigt Lecomte, dass der Nationalsozialismus weder aus dem Nichts entstanden noch ins Nichts verschwunden ist. Doch anders als Fuller, dessen ungeschnittene Verknüpfung in Anschluss durch die Dopplung Linz/Mauthausen sowieso präsent ist, muss Lecomte schneiden, um der Diachronie Herr zu werden. Die Offenheit dieses Montageverfahrens, das die durch Abrissspuren markierte Selbstkorrektur noch hervorhebt, erlaubt dabei die Etablierung eines dichten Verweissystems mit diversen Leitmotiven, die eng miteinander verzahnt sind und sich teilweise gegenseitig anschieben.
Es würde sicherlich den Rahmen sprengen, hier konkret aufzufächern, welche Bilder die Künstlerin miteinander in Bezüge spannt. Dennoch möchte ich es grob anreißen, um die Architektur und Stärke dieser Arbeit herauszustellen. Selbstredend verknüpft sie auf horizontaler Ebene Linz mit seinen das Stadtbild prägenden NS-Bauten, historische Fotografien von Hitler am Tag des Anschlusses in Linz sowie Aufnahmen des Lagers Mauthausen, der „Todesstiege“ und der sogenannten „Fallschirmspringerwand“. Von dieser Fuller’schen Bewegung geht sie über zu Verweisen, die zumeist nicht so eindeutig reziprok funktionieren. Und doch setzt das Credo von Fullers Schwenk, sein „Ihr habt davon gewusst, es war nicht zu übersehen“, den Grundton der Arbeit. Am besten illustriert das die Tafel 16, die so etwas wie das Zentrum des Netzes aus bildnerischen Verweisen darstellt. Darauf zu sehen sind fünf Fotografien: Auf zwei Archivfotografien sieht man die brennende Linzer Synagoge in der Reichspogromnacht; eine Aufnahme zeigt aus Untersicht den Deckenleuchter im Hotel Weinzinger, wo Hitler am 13. März 1938 den sofortigen „Anschluss“ Österreichs einleitete. Etwas weiter unten findet sich Herbert Bayers Fotocollage Aspen Trees (Auf der Suche nach der vergangenen Zeit) von 1959 sowie die dunkle Fotografie eines Waldesinneren von Lecomte, betitelt mit Drei Ansichten 1 (Am besten sieht man’s aus der Luft). Die Aufnahmen der brennenden Synagoge stehen als Zeugnis für die nicht zu leugnende Sichtbarkeit von offener Gewalt gegen bestimmte Volksgruppen im Nationalsozialismus. Das Hotelinterieur hingegen wirkt wie eine Abwendung davon, ein Blick auf Repräsentatives, weniger Schmutziges. Die Untersicht wirkt beinahe ironisch, weil es die offenbare Primärtugend der Zeitgenossen, das Wegschauen, mit dem Blick nach oben nachahmt. Um das Schauen geht es ebenfalls in Bayers Fotocollage, wo ein Augenpaar durch einen dichten Birkenwald blickt; überhaupt sind sämtliche Astlöcher der Birken gleichsam mit Augen angefüllt. Lecomtes Bild schließlich wirkt wie eine formale Verbindung der Helldunkel-Kontraste der Fotos aus der Reichspogromnacht mit dem Waldmotiv, wie es bei Bayer auftaucht.
Nun verweisen sämtliche dieser Bilder wiederum auf andere Tafeln, was weitere Erhellungen und Verschiebungen nach sich zieht. Für das Verständnis von Anschluss sind insbesondere die Bogen von respektive zu den Bildern von Bayer und Lecomte aufschlussreich. Von Bayer finden sich noch insgesamt drei weitere Bilder in Anschluss, von denen vor allem Scheunenwand (1936) relevant ist. Die sorgsam komponierte Fotografie bäuerlicher Werkzeuge, die Bayer später als Vorlage für abstrakte Kompositionen dienen sollte, zeugt zunächst vom Interesse des Bauhäuslers an der ländlichen Bevölkerung und ihrer Lebensweise. In Lecomtes Arbeit dient sie jedoch als Einfallstor in die Biografie Bayers. Denn obwohl Bayers Werke 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst zu sehen waren, was ihn zur Emigration zwang, hatte er ab 1933 beruflich NS-Propaganda betrieben und unter anderem an den Ausstellungen Deutsches Volk – Deutsche Arbeit (1933) und Das Wunder des Lebens (1935) mitgewirkt. Beide Ausstellungen trugen dazu bei, das Rassenhygienebild zu implementieren, an dessen Ende die Massenvernichtungen stehen sollten.
Massenvernichtung wird für Bayer nicht der Gegenstand von Aspen Trees gewesen sein, Lecomte aber macht ihn dazu. Tafel 17 zeigt einen Ort, der wahrscheinlich Bergen-Belsen ist, als Birkenwald. Bereits Tafel 12 hatte diesen Ort eingeführt als einen, an dem Leichenberge zwischen Bäumen liegen. Das (Birken-)Wäldchen wird bei ihr in einer dezenten Einverleibung der Memorierungsbilder von Lanzmann sowie Didi-Hubermans „Bilder trotz allem, die ebenfalls die Shoah unauflöslich mit dem Birkenwäldchen verbinden, zu deren Chiffre. Die Aspen Trees werden dadurch zu einer Erzählung von Schuld, die auch ihr Urheber auf sich geladen hat, weil durch seine Propagandaarbeit andere Bilder durchgesetzt wurden. Es geht wiederum um die Sichtbarmachung dieser Verbrechen, aber nicht unter den moralischen Prämissen der verbissenen Debatte in Frankreich seit 2003, sondern vor der Frage des Hin- und Wegsehens. Dass dies nicht nur in Bezug auf die Zeitgenossen thematisiert werden muss, verdeutlicht die nebengeordnete Fotografie, Lecomtes Drei Ansichten 1 (Am besten sieht man’s aus der Luft). Die Aufnahme eines Waldes ruft erneut die erwähnte Bildchiffre auf. Der irritierende Titel erklärt sich auf Tafel 26, bei der neben Aufnahmen von der „Todesstiege“ und „Fallschirmspringerwand“ die Rückseite einer Postkarte zu sehen ist. Die Aufschrift informiert darüber, dass auf der nicht sichtbaren Vorderseite das ehemalige KZ Mauthausen zu sehen ist. Auf dem Frankierfeld prangt der Slogan der Produktionsfirma Alpine Luftbild Innsbruck: „Am besten sieht man’s aus der Luft“. Hier finden wir schriftlich eine Umkehrung der Untersicht auf die Deckenlampe. Nun nimmt man eine Perspektive aus der Luft ein, die größtmögliche Distanz garantiert. Lecomtes „Ansicht“ hingegen stellt sich dem Gegenstand, geht nah heran, geht in den Wald. Übertragen auf den ganzen Anschluss ist genau das die Qualität dieser Arbeit: Sie geht in die Chiffre und fädelt sie auf, schafft Anschlüsse für Nebenstränge. Sie führt vor, aus welcher Konstellation von Hinsehen, Wegsehen, Zeigen diese Bildchiffre entstanden ist. Gleichzeitig entschlüsselt sie eben dadurch deren rätselhafte Hermetik.