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Franz Thalmair in: Artforum, Critics’ Picks Vienna, 2018
This museum’s well-known collection of anatomical wax models from the Medical University of Vienna is brought into the present in this exhibition. Anna Artaker explores the legibility of the human face by exhibiting death masks from the Josephinum’s holdings as readymades. Without labels or commentary, faces from the late nineteenth to early twentieth centuries mingle in this untitled installation, demonstrating the impossibility of visually differentiating Aryan and Jewish peoples, despite ideas propagated by racist Nazi pseudoscience. Meanwhile, Artaker’s frottage Freud’s Tomb in London, 2018, thematizes more than just the exile of this famous graduate of the Medical University, evoking the Nazi persecution of all Jewish doctors in Austria.
With “Deconstructing Erna,” 2015, Tatiana Lecomte also addresses the absurdity of the idea of racial purity. For the series, she rephotographed portraits from the 1940s book series Das Deutsche Volksgesicht (The Face of the German People) by Erna Lendvai-Dircksen, blending the appropriated visages into new, distorted portraits. The artist also employs image appropriation in Meine erste Löwin #3 (My First Lioness #3), 2018. Here, she short-circuits historical photographs of safaris and medical illustrations with images from recipes and underwear ads. The formal methods of propaganda are invalidated by means of randomness.
With their show running at the same time as the collection exhibition “The Medical Faculty of Vienna 1938 to 1945,” Artaker and Lecomte negotiate history through presentation and mediation. The Josephinum’s invitation of both artists demonstrates a decidedly sensitive approach to the way topics such as persecution, genocide, and biopolitics are treated today.
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Moritz Stipsicz
Die Ausstellung von Anna Artaker und Tatiana Lecomte im Josephinum verschränkt Werke zweier wichtiger zeitgenössischer Künstlerinnen aus Österreich, die in ihrer Arbeit zumeist auf historische Entwicklungen und/oder wissenschaftliche Praktiken des 20. Jahrhunderts Bezug nehmen und deren soziale und psychologische Auswirkungen durchleuchten. Das Aufgreifen von historischem Material und dessen Präsentation in veränderter Form und Kontext zielen darauf ab, Narben in unserem gesellschaftlichen System aufzuzeigen und fundamentale Denkmuster in modernen westlichen Zivilisationen zu entlarven. Insbesondere thematisieren beide Künstlerinnen die Anwendung wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Techniken zur Rechtfertigung von Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus.
Die angedeutete Kritik geht oft einher mit der Infragestellung der verwendeten Medien selbst, ihrer Kapazität, historische Ereignisse adäquat darzustellen bzw. ihrer Eignung als verlässliches Werkzeug in sozial und naturwissenschaftlichen Disziplinen.
Fotografie und Film wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts in solchem Maße verfeinert und verbreitet, dass es uns schwer fällt, die Allgemeingültigkeit des Dargestellten zu bezweifeln (eine Analogie zum heutigen Phänomen sozialer Medien). Doch stellen Fotografie und Film nur bedingt dar, was gewesen ist, sondern vor allem was jemand sehen und darstellen wollte. In den Wissenschaften veranschaulichen sie Kategorisierungen, denen bestimmte Denksysteme zugrunde liegen und suggerieren dabei doch, dass es nur die eine vorgeschlagene Betrachtungsweise gibt. Gleichsam bewahren historische Sammlungen – ob Kunst oder wissenschaftliche Sammlungen – nicht einfach nur Exponate, sie gewähren auch Einblicke in die Weltanschauungen entsprechender Sammler.
Tatiana Lecomte legt in ihren Arbeiten die Machtverhältnisse offen, die sich in menschlichen Beziehungen einstellen können. Das Verhältnis zwischen Fotograf und Fotografiertem entspricht einer Konstellation aus Subjekt und Objekt, aus Handelndem und Behandeltem, die sich in unterschiedlicher Intensität und Brutalität auch in anderen Relationen manifestiert. Im äußersten Fall zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem, Jäger und Gejagtem, aber auch ihrem Wesen nach in alltäglichen menschlichen Interaktionen – zwischen Lehrer und Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Forscher und Proband, Arzt und Patient – in denen die ungleiche Machtverteilung missbraucht werden kann.
Anna Artakers Arbeiten in der Ausstellung beschäftigen sich mit der Be und Verurteilung des Anderen aufgrund äußerlicher Merkmale. Der Mensch kann sich nicht verwehren, beim Betrachten des Gesichts eines Mitmenschen diesem charakterliche, moralische oder psychologische Eigenschaften zuzuschreiben und diese auf sich zu beziehen. Dennoch ist die Vorstellung, dass bestimmte Gesichtszüge auf ebenso bestimmte Charakterzüge und Verhaltensmuster schließen lassen kulturell bedingt – eine Praxis, die willkürliche Kategorisierungen hervorbringt und zur Rechtfertigung von Ab und Ausgrenzung herangezogen werden kann. Eine ihrer gezeigten Arbeiten verweist auf den Film 48 Köpfe aus dem Szondi-Test von Kurt Kren aus dem Jahr 1960, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist.
Die Ausstellung ist ein Beitrag zur parallel im Josephinum gezeigten Schau Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945. Die ausgestellten Werke beziehen sich jedoch nicht explizit auf diese Zeitspanne und im Dritten Reich verübte Gräueltaten. Vielmehr verweisen sie exemplarisch auf Denk und Verhaltensmuster, die in allen menschlichen Gesellschaften existieren und jederzeit die Grundlage bilden können für Grausamkeiten, die Menschen imstande sind einander anzutun.