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Moritz Stipsicz
Die Ausstellung von Anna Artaker und Tatiana Lecomte im Josephinum verschränkt Werke zweier wichtiger zeitgenössischer Künstlerinnen aus Österreich, die in ihrer Arbeit zumeist auf historische Entwicklungen und/oder wissenschaftliche Praktiken des 20. Jahrhunderts Bezug nehmen und deren soziale und psychologische Auswirkungen durchleuchten. Das Aufgreifen von historischem Material und dessen Präsentation in veränderter Form und Kontext zielen darauf ab, Narben in unserem gesellschaftlichen System aufzuzeigen und fundamentale Denkmuster in modernen westlichen Zivilisationen zu entlarven. Insbesondere thematisieren beide Künstlerinnen die Anwendung wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Techniken zur Rechtfertigung von Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus.
Die angedeutete Kritik geht oft einher mit der Infragestellung der verwendeten Medien selbst, ihrer Kapazität, historische Ereignisse adäquat darzustellen bzw. ihrer Eignung als verlässliches Werkzeug in sozial und naturwissenschaftlichen Disziplinen.
Fotografie und Film wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts in solchem Maße verfeinert und verbreitet, dass es uns schwer fällt, die Allgemeingültigkeit des Dargestellten zu bezweifeln (eine Analogie zum heutigen Phänomen sozialer Medien). Doch stellen Fotografie und Film nur bedingt dar, was gewesen ist, sondern vor allem was jemand sehen und darstellen wollte. In den Wissenschaften veranschaulichen sie Kategorisierungen, denen bestimmte Denksysteme zugrunde liegen und suggerieren dabei doch, dass es nur die eine vorgeschlagene Betrachtungsweise gibt. Gleichsam bewahren historische Sammlungen – ob Kunst oder wissenschaftliche Sammlungen – nicht einfach nur Exponate, sie gewähren auch Einblicke in die Weltanschauungen entsprechender Sammler.
Tatiana Lecomte legt in ihren Arbeiten die Machtverhältnisse offen, die sich in menschlichen Beziehungen einstellen können. Das Verhältnis zwischen Fotograf und Fotografiertem entspricht einer Konstellation aus Subjekt und Objekt, aus Handelndem und Behandeltem, die sich in unterschiedlicher Intensität und Brutalität auch in anderen Relationen manifestiert. Im äußersten Fall zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem, Jäger und Gejagtem, aber auch ihrem Wesen nach in alltäglichen menschlichen Interaktionen – zwischen Lehrer und Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Forscher und Proband, Arzt und Patient – in denen die ungleiche Machtverteilung missbraucht werden kann.
Anna Artakers Arbeiten in der Ausstellung beschäftigen sich mit der Be und Verurteilung des Anderen aufgrund äußerlicher Merkmale. Der Mensch kann sich nicht verwehren, beim Betrachten des Gesichts eines Mitmenschen diesem charakterliche, moralische oder psychologische Eigenschaften zuzuschreiben und diese auf sich zu beziehen. Dennoch ist die Vorstellung, dass bestimmte Gesichtszüge auf ebenso bestimmte Charakterzüge und Verhaltensmuster schließen lassen kulturell bedingt – eine Praxis, die willkürliche Kategorisierungen hervorbringt und zur Rechtfertigung von Ab und Ausgrenzung herangezogen werden kann. Eine ihrer gezeigten Arbeiten verweist auf den Film 48 Köpfe aus dem Szondi-Test von Kurt Kren aus dem Jahr 1960, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist.
Die Ausstellung ist ein Beitrag zur parallel im Josephinum gezeigten Schau Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945. Die ausgestellten Werke beziehen sich jedoch nicht explizit auf diese Zeitspanne und im Dritten Reich verübte Gräueltaten. Vielmehr verweisen sie exemplarisch auf Denk und Verhaltensmuster, die in allen menschlichen Gesellschaften existieren und jederzeit die Grundlage bilden können für Grausamkeiten, die Menschen imstande sind einander anzutun.